432 Hertz Stimmung: Hype oder Heilung?
Hintergrundfeature von Yogendra
(2021)
432 Schwingungen pro Sekunde – in den letzten Jahren mehren sich Stimmen, wonach genau diese Frequenz eine Vielzahl wunderbarer Wirkungen auf den Menschen habe. Sie soll heilen, entspannen, die Stimmung aufhellen, das Herz öffnen, innere Entwicklung fördern, Blockaden lösen, mit Himmel und Erde verbinden, Körper und Seele in Einklang bringen, mit dem menschlichen Körper in Resonanz gehen, gesunden Zellstoffwechsel fördern, die Gehirnhäften synchronisieren und die DNA harmonisieren. Die angebotenen Erklärungen dafür reichen vom Pulsieren der Erde in der Schumann-Resonanz von 8 Hertz, über die Umlaufzeit der Erde um die Sonne mit einer oktavierten Frequenz von 136,1 Hertz, die Behauptung Mozart und Verdi hätten in 432 Hertz komponiert, Erkenntnisse von Rudolf Steiner und die vermeintliche Wahrnehmungsgrenze des menschlichen Ohres bei 16 Hertz, bis hin zu uraltem Wissen der Hebräer, Ägypter, Sumerer und Inder (die ihre Sitars angeblich schon immer auf den Erdenton Cis mit 136,1 Hertz stimmen würden). Was ist da los?
Fangen wir bei den Indern an. Der Irrglaube an einen universellen indischen Grundton Cis dürfte auf Hans Cousto zurückgehen. Angeregt von einer „Vision auf Pilzen“ hatte Cousto 1979 in „Farbton, Tonfarbe und die Kosmische Oktave“ erstmals Planetendrehungen und -umlaufzeiten als extrem langsame Schwingungen verstanden, die durch mehrfache Oktavierung / Verdoppelung in hörbare Tonfrequenzen umgerechnet werden können. Für den Erden-Jahreston kam er auf 136,1 Hertz (und lag damit etwas tiefer als das Cis, das sich bei A mit 440 Hertz ergibt). Dieses etwas tiefere Cis sei der Grundton indischer Musik, schrieb Cousto. In einem Interview von 2017 erzählt er, wie er darauf gekommen ist: "Ich habe zu der Zeit zufällig ein Buch von Ravi Shankar gelesen, My Music My Life, und da beschreibt er genau, dass das indische Cis ein bisschen tiefer gestimmt ist als unser europäisches Cis, das genau dies der Grundton ›Sa‹ sei." Leider hat Cousto wohl nicht sehr gründlich gelesen. Ravi Shankar schreibt nämlich im ersten Abschnitt von „My Music, My Life“: „SA itself does not have a fixed pitch like middle C in the Western scale. It corresponds more accurately to what the Westerners call the moveable DO.“ Und im vierten Abschnitt sagt er zur Stimmung von Sitars: „Depending on the size and strength of the instrument, the SA may vary anywhere from B natural to D natural.“ Der damals sehr bekannte Musikjournalist Joachim-Ernst Berendt wiederum hat Coustos frei erfundene Behauptung vom tieferen Cis als Grundton indischer Musik 1983 in seinen Bestseller „Nada Brahma – Die Welt ist Klang“ übernommen - und damit enorm zur Legendenbildung beigetragen.
Fakt ist: Die klassische indische Musiktradition kennt zwar genau definierte Intervallverhältnisse, aber keinen absolut definierten Grundtonmit einer bestimmten Frequenz. Der Grundton SA wird nach Stimmlage oder Beschaffenheit des Instruments frei von der jeweiligen Solist*in festgelegt. Alle Begleitmusiker*innen stimmen auf das individuell festgelegte SA. Und alle weiteren Töne definieren sich in Relation dazu. Das war auch in Europa jahrhundertelang gängige Praxis. Es gab nämlich schlicht keine Möglichkeit, Frequenzen exakt zu messen und festzuhalten. Beim Singen schwankt die Tonhöhe abhängig von Tageszeit und Tagesform, Saiteninstrumente reagieren auf Temperatur und Luftfeuchtigkeit, Blasinstrumente verändern die Tonhöhe je nach Ansatz, und selbst die schon seit dem Mittelalter gebräulichen Orgeln verändern ihre Tonhöhe im Lauf der Zeit. Es ging lange nicht um eine exakt bestimmte Frequenz des Grundtons, sondern um den guten Zusammenklang eines konkreten Ensembles.
Erst mit Erfindung der Stimmgabel 1711 wurde es möglich, immer auf den selben genau definierten Ton zu stimmen – was das Zusammenspiel in den immer größer werdenden Ensembles sehr erleichterte. In verschiedenen Regionen und Musikstilen wurden aber weiter sehr unterschiedliche Stimmtöne verwendet. Dank historischer Stimmgabeln wissen wir, dass der Stimmton A gegen Ende des 18. Jahrhunderts etwa zwischen 400 und 450 Hertz lag. Erst im 19. Jahrhundert wurden (mit dem Erstarken der Nationalstaaten und zunehmender internationaler Verflechtung auch im Musikleben) verbindliche Standards für den Stimmton A definiert. Frankreich legte ihn gesetzlich auf 435 Hertz, während in Großbritannien erst 452 Hertz als Philharmonic Pitch angesetzt wurden und später 439 Hertz. 1939 schließlich vereinigte die Vorläuferin der heutigen Internationalen Organisation für Normung die verschiedenen Regelungen auf einen Standard von 440 Hertz. Diese Übereinkunft gilt bis heute und ist vor allem ein pragmatischer Kompromiss, der der Musikindustrie weltweit Kooperation und Vermarktung erleichtert. Sie ist aber für niemanden verbindlich. Klassische Sinfonieorchester spielen heute z.B. meist auf deutlich höheren Stimmtönen, während Ensembles für Alte Musik wesentlich tiefere historische Stimmungen verwenden. Und in der indischen Klassik stimmen nach wie vor alle, wie es ihnen gerade richtig erscheint.
Der kurze Blick in die Geschichte und nach Indien zeigt, dass Menschen immer und überall musikalische Klänge gesucht und gefunden haben, die so beglückend waren, dass sie ihnen ihr Leben gewidmet haben. Auf wieviel Hertz der Grundton geschwungen hat, scheint dabei keine wesentliche Rolle gespielt zu haben. Das Wunderbare an Musik ist ja nicht die Hertzzahl des Grundtons, sondern es sind die Klangfarben von Stimmen und Instrumenten, die Rhythmen, Melodien und Harmonien, ihre Verbindung mit Worten, ihre Entfaltung in Raum und Zeit, das Mitschwingen unserer Körper, das Berührtwerden unserer Seelen, das Gefühl von Freiheit und Transzendenz, das sie vermittelt. Wer glaubt, dass 432 Hertz die allein heilende und selig machende Grundschwingung von allem sei, sitzt einem womöglich kurzlebigen Hype auf und verkennt die unendliche Vielschichtigkeit von Musik. Wer aber das Wohlbefinden gesteigert fühlt durch Töne, die auf 432 Hertz gestimmt sind, möge das nach Herzenslust genießen. Es lebe die Vielfalt!
Alle Saiteninstrumente und Trommeln bei India Instruments lassen sich flexibel auf 432 Hertz, 440 Hertz oder andere gewünschte Referenztöne stimmen. Harmoniums oder Shrutiboxen lassen sich aber nur schwer umstimmen – bei deren Kauf gilt es deshalb, eine Entscheidung zu treffen. Die wenigen indischen Hersteller von Harmoniumzungen produzieren seit dem späten 20. Jahrhundert nur noch Zungen nach 440 Hertz Standard. Andere Stimmungen sind wirtschaftlich vermutlich nicht lohnend. Deswegen liefern wir alle Harmoniums und Shrutiboxen standardmäßig mit Stimmung um 440 Hertz. Shrutiboxen bieten wir aber im regulären Sortiment auch in 432 Hertz an. Und Harmoniums in 432 Hertz sind als Sonderanfertigung ebenfalls lieferbar. Diese Instrumente werden von Hand durch Abschleifen der Tonzungen an ihrer Basis tiefer gestimmt. Die Ausdünnung macht die Zungen allerdings unstabiler und leichter verstimmbar. Zweiter Nachteil ist, dass Zusammenspiel nur noch mit sehr flexibel stimmbaren Instrumenten möglich ist, oder mit welchen die ebenfalls fest auf 432 Hertz gestimmt sind – und die sind selten. Drittens kann der Verkauf schwieriger werden, wenn das Instrument irgendwann nicht mehr gebraucht wird. Und schließlich ist auch zu bedenken, dass die genaue Schwingungszahl der metallenen Zungen von Temperatur und Anblasdruck beeinflusst wird. Harmoniums und Shrutiboxen, die wir bei 20 Grad Zimmertemperatur und moderatem Anblasdruck auf 432 Hertz engestellt haben, klingen tiefer wenn es erheblich wärmer ist und sie mit hohem Druck gespielt werden – und höher in kalter Umgebung. Wir empfehlen deshalb den Kauf von Harmoniums und Shrutiboxen in 432 Hertz
nur nach reiflicher Überlegung. Auf Wunsch beraten wir gern dazu.